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Sanftmut

Drei Dinge fallen mir auf, wenn ich über Gefühle nachdenke:

  1. Die Unterscheidung von Gefühl und Verhalten
  2. Die geschlechtsspezifische Unterscheidung
  3. Die moralische Hierarchisierung

Die Unterscheidung von Gefühl und Verhalten

Man kann Gefühle nicht messen, sehen oder erkennen. Wir tauschen uns aber darüber aus, wie wir Gefühle ausdrücken.

Früher (Charles Darwin, Paul Ekman): Es gibt kulturunabhängige Basisemotionen, die man am Gesicht ablesen kann.

Das ist falsch.

Heute: Gesichtsausdrücke sind hochgradig kontextabhängig. Ein „Lächeln“ kann Freude, Höflichkeit, Unsicherheit oder sogar Abwehr bedeuten. Man kann nicht verbindlich Gefühle am Gesicht ablesen – ohne Situation, Körpersprache und Stimme ist es unsicher, uns selbst dann nie zwangsläufig. Verschränkte Arme und belegte Stimme können alles Mögliche bedeuten.

Wenn sich der Magen zusammenzieht, ist das messbar und erlebbar, kann aber Lebensvergiftung oder Verliebtheit bedeuten.

Am Verhalten werden Gefühle für uns und andere kommunizierbar und erlebbar. Nicht selten sind Begriffe für Gefühl und Verhalten oder ästhetische Eigenschaften nicht klar zu trennen. Beispiele: sexy, aggressiv.

Begriffe sind keine ausgedachten, beliebigen Sprachcodes, mit denen man das Gehirn programmiert, sondern kontextabhängige, durch Situationen und Beziehungen erlernte Entitäten, die ihren etymologischen Ursprung haben, der den Kontext wiedergibt. Schadenfreude, Mitgefühl, Hunger sind nicht bloß irgendwelche Wörter, sondern kulturelle Entitäten.

Und nein, ich denke eben nicht, dass Bedeutungen sich einfach ändern und dann ist das so, denn auch der Wandel ist eine Verschiebung. Gerade am Begriff Gift ist das erkennbar, denn es kommt ja auf die Dosis an, wie die Gabe ankommt. Deshalb gibt es ja Dosierangaben.

Genau deshalb ist das Wort toxisch kein akzeptabler Begriff in der Wissenschaft.

Worte werden angreichert mit Bedeutung, vielleicht sogar widersprüchlichen. Der Stoff, mit dem man Kalk entfernen kann, macht man sich auch an den Salat.

Ätzend ist auch ein gutes Beispiel, wie viel Sinnlichkeit und Metaphorik in einem Wort steckt. Es kommt von Fressen, weil es sich reinfrisst.

Tatsächlich haben wir früher ätzend genannt, was heute toxisch ist. Nur war uns klar, dass das Umgangssprache war.

Die geschlechtsspezifische Unterscheidung

Das 19. Jahrhundert hat Gefühle geschlechtsspezifisch unterschieden, mit der Begründung, dass Mann und Frau biologisch, also gemäß ihrer Natur, unterschiedlich sind. Natur, Kultur, Genetik, Biologie, Psychologie … das alles hat sich erst entwickelt.

Heute ist man klüger und weiß, dass es keinen Unterschied gibt.

In unserer Kultur aber schon. Dahinter stecken Erwartungen an das Verhalten von Männern und Frauen. Und das ist so lebendig wie eh und je. Wir haben nur die Begriffe geändert, wir nennen das nicht mehr Sanftmut und Zorn, sondern Empathie und Durchsetzungsvermögen.

Es gab im 19. Jahrhundert eine klare „Gefühlsgeschlechterordnung“. Dahinter stand die Erwartung an ein sozial erwüschtes Verhalten, gemäßig seiner Natur.

Im 18. und 19. Jahrhundert herrschte in weiten Teilen der bürgerlichen Kultur die Vorstellung, dass Frauen gemäß ihrer Natur emotional handeln und zu rationellen Entscheidungen nicht fähig sind, während der Mann von triebbestimmenden Naturkräften davon abgehalten wird, rational zu handeln. Es war die Aufgabe der sanftmütigen Frau, den armen Mann vor seinen aggressiven Leidenschaften zu bewahren, die von ihm Besitz ergreifen.

Im Strafrecht macht man hier keinen Unterschied mehr, in den kulturellen Erwartungen hält es sich noch, ich denke aber, dass sich das gerade sehr schnell ändert. Ich denke auch, dass daher auch der extrem panische, reaktionäre Gegenwind kommt, der mit Aggression und Macht versucht, das zu verhindern.

Die moralische Hierarchisierung

Das Buch Der aufrechte Gang von Kurt Bayertz liegt auf meinem Stapel der ungelesenen Bücher. Ich nehme an, dass man hier Antworten auf die Frage findet, weshalb wir die Welt in ein Unten (natürlich, erdverbunden, bodenständig, urwüchsig, ordinär u.s.w.) und ein Oben teilen (geistig, erhaben).

In der Parfümerie kennt man das Ritual des Verbennens von Duftstoffen (Harze, Kräuter etc.), um sich mit den Göttern zu verbinden, der aufsteigende Rauch verbindet die Menschen mit ihm.

Füße fest auf dem Boden, Kopf leicht und klar in die Höhe. So ordnen wir auch Gefühle. Auch hier gab es die Vorstellung der Verfeinerung von Gefühlen hin zu leichteren Gefühlen. Es gab grobe, tierische Affekte, die wir mit dem Gewürm teilen, und die durch Bildung erworbenen feineren Gefühle, die sich in unserem Verhalten zeigen soll.

Ich will das gar nicht zynisch abtun, ich praktiziere das selbst und diese Vorstellung ist mir Richtschnur. Dabei eben kein arroganter Schnösel werden, sondern sich einfach etwas besser und netter fühlen, ist mein Motiv.

Also, ja, so eine moralische Hierachisierung ist für mich nachvollziehbar und immer noch aktuell. Aber eben ohne Arroganz, mit viel Mitgefühl, Zuhören, Verständnis, möglichst wenig Wertung.

Sanftmut bedeutet weich, mild, ruhig und Stimmung, Gemüt, innere Haltung.

Sanftmut galt als „Frauengefühl“. Sie war die Zierde der Frau. Frauen sollten durch ihre Milde die raue Männerwelt besänftigen. Sie war das Gegenteil von männlicher Kraft, Härte, Ehre. Besonders in der Pädagogik und in der Literatur des 19. Jahrhunderts wurde Sanftmut als Ideal der Mutter und Ehefrau beschrieben.

Heute wirkt Sanftmut eher altmodisch, fast passiv. Wir würden heute Empathie, Geduld, Freundlichkeit oder Gelassenheit sagen.

Sanftmut ist eine kultivierte Form der Aggressionslosigkeit, die zugleich liebevolle Zuwendung ausstrahlt.

Das ist schön, das gefällt mir. Sanftmut schreibe ich mir ganz groß ins Notizbuch.

Und ich bin wirklich erstaunt und ein bisschen entsetzt, dass das bei Frauen gut ankommt und Männer extrem irritiert sind, also dass es geschlechtlich unterschiedlich wirkt. Heute noch, in meiner direkten, echten Umgebung.

Also von wegen früher und heute.

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